Wittener Tage für neue Kammermusik

Dokumentarbericht über den Komponisten und Begründer der Wittener Tage für neue Kammermusik
Robert Ruthenfranz, am 3.9.1905 in Witten an der Ruhr als Sohn einer traditionellen Handwerkerfamilie geboren, war zeit­lebens eine rastlose Künstlernatur.
Komponieren - dirigieren - organisieren von Veranstaltungen interpretieren - Einrichtung der Reihe "Meisterkonzerte" - Be­gründer der "Wittener Tage für neue Kammermusik" - Diri­gent des damaligen Kammerorchesters - Musikvereins und des Ruhrkammerorchesters - Leiter des staatl. anerk. Konserva­toriums für Musik" und des "Kammerstudios" - Preisrichter bei der belgischen Jury - waren u. a. die künstlerischen Betä­tigungen von R. R.


Schon als junger Gymnasiast komponierte er die ersten Lieder für Sopran nach Texten von Eichendorff, die anläßlich einer Schulfeier zur Aufführung kamen, mit dem jungen Komponisten am Flügel.


Nach Absolvierung der Schule erhielt R. R. in Merane im Säch­sischen eine Ausbildung im Klavierbau. Kurz darauf kompo­nierte er ein Singspiel nach eigenem Textbuch "Licht und Schatten", dessen Erstaufführung im Voss'schen Saalbau in Witten stattfand. Dabei wirkte u. a. das Ballett des Dortmunder Stadttheaters mit. Der damalige Konzertmeister des städt. Or­chesters, Dortmund, Paul von Scent-Georgy, spielte zu einem späteren Zeitpunkt mit einem Ensemble eine Tanzfolge aus dem Singspiel im Kölner Rundfunk.


Nachdem R. R. sein Studium im städt. Konservatorium (Dort­mund) mit einem Staatsexamen für Klavier abgeschlossen hatte, begannen sich schon die ersten Kontakte mit Belgien anzubah­nen, die seinen späteren Lebensweg wie ein roter Faden durch­ziehen sollten.


Ein Werk für zwei Klaviere Passacaglia Op.22, gab den Anlaß, sich mit mir, damals noch Hertha Brenscheidt für Konzerte an zwei Klavieren zu vereinigen. - Das erste Konzert dieser Art fand 1928 im "Salle pro Artes" in Antwerpen statt. Nach Beendigung des Konzertes hatte R. R. Gelegenheit, den heute noch in Belgien sehr bekannten und geschätzten Komponisten, Marinus de Jong kennen zu lernen, dessen Werke häufig im Brüsseler Rundfunk und in der königl. fläm. Oper in Antwerpen zur Aufführung kamen. M. de Jong hatte uns ein Werk für zwei Klaviere gewidmet. Es war in phrygischer Tonart und deshalb klanglich besonders reizvoll. Wir spielten es einige Male im Westdeutschen Rundfunk.
Inzwischen hatte R. R. sein erstes Klavierkonzert geschrieben, welches mit Wilh. Buschkötter als Dirigenten und mit mir, Hertha Brenscheidt, als Solistin, im Kölner Rundfunk uraufgeführt wurde. Es war eine Direktsendung und man hörte damals noch mit Kopfhörern.


Ein Jahr später eröffnete Bad Driburg eine Kunstausstellung. Für die Eröffnung dieser Ausstellung (beteiligt waren: Maler­ Schriftsteller - Graphiker - Goldschmiede und Komponisten) wurde R. R. beauftragt, ein Werk zu komponieren: "Bilder und Scenen" für Klavier und Orchester. Solistin: Hertha Brenscheidt, am Pult: der Komponist.
In diesem Zeitraum war auch die Musik zu dem Singspiel: "Die Fischerin“ nach Texten von Goethe entstanden. Die Aufführungen fanden einen Sommer lang an und auf dem Hammerteich in Witten statt. Später wurde dieses Singspiel auch mehrere Male in Konzertform aufgeführt. Die Musik war so bezaubernd, daß sie auch ohne Scenerie ihre Wirkung auf die Zuhörer ausübte.


1936 gründete R. R. die „Wittener Tage für neue Kammermusik“. Diese Veranstaltungen fanden in den ersten Jahren im Vortragssaal unseres Konservatoriums statt. R. R. verpflichtete nur Künstler ersten Ranges, die er aus eigenem Vermögen finanzierte. Das ging so viele Jahre hindurch, bis die hohen Kostenaufwendungen seine Verhältnisse überstiegen... Der Stadt Witten sei an dieser Stelle gedankt, daß sie sich für seine Idee einsetzte, indem sie die Finanzierung übernahm und somit die Möglichkeit gegeben war, die Musiktage bis auf den heutigen Tag fortzusetzen. - Selbst in den ersten Kriegsjahren konnten die „Wittener Tage für neue Kammermusik" noch zur Durchführung kommen. Die Dienststelle von R. R. in Paris (Zollgrenzschutz) bewilligte ihm dazu stets einen Sonderurlaub. - Dieses weltbekannte Festival gibt ein aufschlußreiches Bild über typische Merkmale zeitgenössischer Kompositionskunst.
Die Gründung seines Kammerstudios (1964) spiegelt seinen Hang und seine Liebe zum Theater wider, welche in authenischer Form sich vor allem in das Wirken zeitgenössischer Bühnenwerke versenkt. - Im Vordergrund strebt jedoch das Eigenschaffen des Komponisten R. R. zum Erfolg. Ein langer Katalog anregender Titel bietet ein präzises Bild mitschöpferischer Phantasie eines Künstlers, welcher in undogmatischer Weise wesentliche Akzente moderner Kompositionskunst assoziiert (aus "Musica nova").
In den Jahren (1930-1932) hatte das Stadttheater Hagen die bisherige Entwicklung geweitet. Die konsequente Verbindung von Wort und Ton (Alb an Bergs "Wozzek") durchdringt hier die Energien des werdenden Kapellmeisters und Bühnenautors. Bühnenmusiken und Musik zu Hörspielen entstanden bereits während seiner Tätigkeit beim Theater.
Ungeachtet seines vielseitigen Arbeitspensums fand R. R. Zeit, das eigenschöpferische zu fördern und sich bei prominenten Persönlichkeiten wie Prof. Max Trapp und Paul Hindemith weiter zu bilden.
Von Berlin bekam R. R. den Auftrag, eine neue Musik zu der Rüpeltanzscene aus dem "Sommernachtstraum" von Felix Mendelssohn zu komponieren.


Immer wieder war es Paul Hindemith, dessen experimenteller Vorstoß für R. R. zum komponenten Antrieb wurde. Konzertreisen ins Ausland (Belgien - Frankreich - Schweiz ­Italien u. a.) üben tiefen Eindruck auf die weitere Entwicklung aus. Neben den deutschen Rundfunkstationen sind es vor allem der belgische Staatsrundfunk (Brüssel-Antwerpen) - der schweizerische Rundfunk (Sottens Monte Cenerie) - der französische Rundfunk (Paris Inter), die sich fortlaufend für sein Schaffen einsetzen.


Radio Genf führt sein "Barlach-Klavierkonzert" auf mit Prof. Tiny Wirtz als Solistin. Radio München sendet "Partita“ für Viola und Klavier, Solist: Hendrik Langewoothers, am Klavier: der Komponist. - Baden-Baden bringt als Konzertaufführung die Ballett-Suite "Die olympische Hochzeit" nach Apuleus in acht Sätzen. Der WDR sendet "Divertimento " (Cello: Irene Güdel, Klavier: der Komponist). Der Genfer Pianist Charles Dobler spielt im Radio München und zu einem späteren Zeitpunkt in einer der Veranstaltungen de r"Wittener Tage für neue Kammermusik" die beiden Klaviersonaten von R. R., die von den Zuhörern begeistert aufgenommen werden. Der Südwestfunk sendet ein "Bläserquintett" und kurz darauf "fünf Expressionen für großes Orchester".


In den Programmen seines Kammerstudios fand man des öfteren "Das letzte Band" von Beckett verzeichnet. R. R. hatte eigens für dieses Stück "Evokationen auf Beckett" für Cello-Solo geschrieben. Beckett sandte dem Komponisten für seine Arbeit ein Dankschreiben.
Der Direktor des Brüsseler Rundfunks, Leonee Gras, veranlaßte, daß Bandaufnahmen von den Werken "Barock-Suite" u. "Roun­deley" hergestellt wurden.
Das belgische Fernsehen brachte eine Sendung mit R. R. im Gespräch mit einem belgischen Experten für neue Musik. Sein Name als Autor gehaltvoller Beiträge zum Musikschaffen der Gegenwart erschien immer häufiger in den Programmen repräsentativer Sinfoniekonzerte. Schließlich kamen seine Werke in der näheren Umgebung des öfteren zu Gehör. Der Bochumer Kinderchor führte seine "Weihnachtskantate: Ihr Kinderlein kommet" und die Kantate "Von Meistem und Gesellen" auf.


Es folgten Engagements in bedeutende Badeorte (Karlsbad ­Kudowa - Liebenstein - Pyrmont u. a.). Eine Tournee durch Italien mit Konzerten für zwei Klaviere war noch geplant, jedoch der Ausbruch des Krieges machte alle Pläne zunichte. Wir spielten nochmals im Deutschlandsender das Es-Dur-Klavierkonzert von Mozart. Der damalige Kapellmeister des Deutschlandsenders Dobrindt nahm mit seinem Orchester die "Tänzerische Suite" auf Band, welche während des Krieges häufig gesendet wurde. Nunmehr gibt es dieses Werk noch für elektronische Orgel.
Anfang des Krieges war R. R beim Zollgrenzschutz in der Normandie stationiert. Auf Grund seiner musikalischen Fähigkeiten wurde er nach Paris beordert. Sein Vorgesetzter, ein musikinteressierter Zollrat, gestattete ihm, während seiner Dienstzeit Noten zu schreiben und beurlaubte ihn dazu, zwei Sinfoniekonzerte in Paris (Pleyel-Saal) mit dem Lamoureux-Orchester zu veranstalten. Außerdem beauftragte man ihn, im Radio Paris wöchentlich eine Stunde mit neuer Musik zu bringen. Somit hatte R. R. die Möglichkeit, eine große Anzahl französischer zeitgenössischer Komponisten aufzuführen, die ihm allesamt nach Beendigung des Krieges ihre Freundschaft anboten.
Auch in Belgien fand er immer mehr gute Freunde. Es waren derer so viele, daß man sie an dieser Stelle nicht alle nennen kann. Zu den Treuesten zählten: Paul von Crombrüggen - Leonee Gras (Direktor des Brüsseler Rundfunks) und vor allem sein bester Freund Renier van der Velden (Direktor des flämischen Rundfunks in Antwerpen). Unzählige Male kamen Sendungen über den Antwerpener Sender zu uns nach Deutschland.


In den Nachkriegsjahren erlebten wir noch einen Kompositionsabend mit Werken von R. R. in Paris. Wir spielten nochmals vierhändige Klaviermusik in den Sendern: Genf, Brüssel, Antwerpen, Berlin, Paris. Dann aber widmete sich R. R. hauptsächlich seinem kompositorischen Schaffen. Prospekte und Kataloge geben Einblick in seine vielseitigen Werke.
In den Programmen der Sinfonie-Konzerte Dortmund und Bochum sah man Werke von R. R. häufig angekündigt. Die inzwischen gegründeten "Ruhr-Kammerspiele" inspirierten R. R. ein Weihnachtsmärchen "König Drosselbart" und später noch ein zweites: "Rumpelstilzchen" zu vertonen. Es folgte die Musik zu dem Bühnenstück "Kleopatra die Zweite". In Hamburg kam es zu mehreren Aufführungen mit Trude Hesterberg, Paul Heidemann, Tanzpaar Höpfner u. a.
Der plötzliche Tod (29. 11. 1970) setzte dem nie rastenden Wirken des Komponisten R. R. ein jähes Ende. Einige Orgelsoli aus seinem letztgeschaffenen Werk: "Requiem für Zeitgenossen", eingespielt auf Band von dem Organisten Hendrik Frederichs (Universität Bochum) erklangen zu seiner letzten Ehrung. Die Stadt Witten veranstaltete ein Gedenkkonzert mit Werken von Robert Ruthenfranz und Paul Hindemith. Einleitend würdigten Dr. Wilfried Brennecke und Herr Karl Hoffmann (treuer Freund von R. R.) den Verstorbenen durch eindrucksvolle Gedenkworte. Pfr. Wolf Meydam, der dem Verstorbenen den letzten Nachruf widmete, und der ihm jederzeit die Christuskirche für seine Aufführungen ("Requiem für Zeitgenosse" und "Kantate: An Bethlehem denken") zur Verfügung gestellt hatte, sagte u. a. über sein Wirken und über seine Musik: es sei eine revolutionäre Musik, etwas für Leute, die das Seichte verabscheuen und deren Seele Tiefe habe. "Requiem eternam" (dem Gedenkstein entnommen, der seine Grabstätte krönt). Geschaffen wurde dieses Monument von dem mit ihm gut befreundeten Karl-Heinz Urban. Er schuf zu "Requiem für Zeitgenossen" ein grandioses Werk: Triptychon.


Verfasst von Hertha Ruthenfranz-Brenscheidt
"Tryptychon" von Karl-Heinz Urban zu "Requiem für Zeitgenossen" von Robert Ruthenfranz